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Prof. Dr. Rainer Beck Ordinarius für allgemeine Kunstgeschichte an Hochschule für Bildende Künste Dresden

I.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich dem Werk des heute in Dresden ansässigen Hallensers Henri Deparade zu nähern. Die kunsthistorisch naheliegendste wäre, die wechselnden Richtungsorientierungen seiner verschiedenen Werksphasen aufzulisten und daraus entsprechende Schlüsse zu ziehen. Also die Schilderung seines Wegs von den an der altdeutschen Malerei und am Verismus von Malern wie Dix und Querner angelehnten akademischen Anfängen über die Auseinandersetzung mit Expressionismus, Surrealismus, dem späten Picasso, abstraktem Expressionismus und  Informel bis hin zu den heutigen Bildern, die in gewisser Weise eine Art autonome Kombination von alledem verkörpern: eine Synthese abstrakt-expressiver Räumlichkeit mit psychisch-automatischer Figurenzeichnung bei gelegentlichem Aufscheinen realer Bezüge.

Das stimmt zwar alles, ist jedoch im Grunde nur Begriffsgeklingel, das uns der Substanz der Bilder Henri Deparades nicht näher bringt, sondern lediglich die inzwischen sattsam bekannte Beobachtung untermauert, dass wir uns in einer Epoche befinden, die sich unter zeitgenössischen Gesichtspunkten der Kunstgeschichte und ihrer Ausformungen bedient, diese individuell fortschreibt, je nachdem auch mit technischen Neuerungen verbindet, um daraus neue, persönlich verantwortete Sehweisen zu entwickeln, die in der Synthese mehr sind als nur die Summe ihrer Teile, eben über die Einzelgesichtspunkte hinaus zu einer neuen Differenzierung und Intensität der Betrachtung unserer alten menschlichen Grundfragen zu gelangen.

II.
Bereits weiterführend ist die Frage, welcher künstlerischen Mittel sich Deparade bevorzugt bedient. Ihre Beantwortung sagt uns etwas über sein künstlerisches Temperament und die Gefühlstemperatur seiner Bilder. Hier ist zuallererst eine allen Bildern ausnahmslos zu Grunde liegende, ungegenständliche Farbkomposition, besser Farbkonstellation, zu nennen, die unter Ausnutzung der spezifischen Raumhaltigkeit der Farben die Assoziation unterschiedlicher Raumdimensionen und damit Raumbewegung suggeriert. Trotz dieser Bewegung findet jedoch stets ein harmonikaler Ausgleich statt, so dass selbst dramatische Stimmungslagen in der Balance gehalten werden. Mit dieser Farbkomposition verbindet sich eine in flüssiger, spontaner Handschriftlichkeit „herunter geschriebene“ Figürlichkeit, zum Teil die Farbkomposition überlagernd, zum Teil von jener überlagert, zum Teil von jener durchdrungen. Beides scheint untrennbar miteinander vereint. In einer Art innerem Parallelismus zur konstatierten Balance der Farbkomposition, findet auch innerhalb der Zeichnung, selbst bei dramatischsten Figurenkonstellationen, ein harmonikaler Ausgleich statt, bewirkt durch eine Schönlinigkeit, die an Matisse, vielleicht noch mehr an André Masson und vor allem Francis Picabia, also Ausformungen der surrealen Zeichnungsautomatik denken lässt. Auch beispielsweise Andy Warhol oder Sigmar Polke haben sich von hier entsprechende Anregungen geholt. Anflüge des Realen brechen immer dort durch, wo sich auf den Gesichtern leidenschaftliche Emotion abbildet. Ihre ausdrucksmäßige Zuspitzung verrät die veristischen Anfänge, ihre Einbettung in den linearen Schreibstil der Zeichnung die Auseinandersetzung mit dem elementaren malerischen Vortrag des späten Picasso.

III.
Erst Zusammenwirken und Anwendung der genannten künstlerischen Mittel führen zur inhaltlichen Aussage, die Deparades Kunst zugrunde liegt. Seine Farbkompositionen sind dezentralisierte, mehrzentrische Räume, nicht begrenzt, sondern nach allen Seiten hin offen, Ausschnitte eines umfassenden Größeren, das in harmonikal gestimmter Bewegung die menschliche Figur nicht nur durchdringt, insofern körperhaft verräumlicht, sondern diese auch in einem Gesamtzusammenhang birgt. Die Körper werden dadurch leicht, entmaterialisiert, fast schwebend. Vorder- und Hintergrund gehen dadurch fließend ineinander über, so dass differenzierte Raumschichtungen entstehen. Und wiederum können wir einen, diesmal inhaltlichen, Parallelismus zwischen Raum und Mensch beobachten. Der bei Deparade stets in Zweisamkeit oder als Gruppe auftretende Mensch erscheint nicht nur als soziales Wesen, in der Interaktion der Gruppe, als differenziert und unterschiedlich, sondern auch als Einzelwesen. Viele seiner Gestalten sind mit zwei oder drei Gesichtern dargestellt, als in sich unterschiedliche, zumindest differenzierte Wesen, gleichsam von psychisch mehrschichtiger Raumhaltigkeit, deren jeweilige Seinsschicht sich mit einer jeweils unterschiedlichen Raumschicht verbindet.

Weder Raum- noch Figurendarstellung sind von näher definierter Inhaltlichkeit, ihr Charakter ist der allgemeiner Grundkonstellationen: Nicht gerichtete Raumbewegung, sondern Bewegung allgemein, nicht inhaltlich begründete, sondern Aggression als allgemeines menschliches Phänomen, nicht spezifische Sexualität identifizierbarer Personen, sondern in allgemeiner Bildhaftigkeit durch das Symbol der Zunge usw. Ausdrücklich bemerkt Henri Deparade in einem Gespräch mit Ingrid Koch aus dem Jahre 2005: „Indem man eine narrative Struktur zugunsten einer assoziativen Freiheit auflöst, kann es gelingen, den Rezipienten als Interpreten ernst zu nehmen. Zeit- und Raumachsen relativieren sich. In der malerischen Verwirklichungsform gibt es eine inhaltliche Erweiterung; so verschiebt sich das Gewicht vom „Realitätssinn“ zum „Möglichkeitssinn.“ Das heißt: Erst der Betrachter befördert durch seine Assoziationen die allgemeinen Inhalte der Bilder zu konkret inhaltlichen. Kunst wird zum Katalysator individueller Interpretation und Sinngebung. Dem widersprechen auch nicht Bildtitel, die Deparade häufig aus der griechischen Mythologie entlehnt. Das dortige Geschehen wird von ihm in Allgemeinsituationen übersetzt. Wenn zum Beispiel ein Bildtitel lautet: „Agamemnon, Klytämnestra und Kassandra“, so hat zwar der gebildete Betrachter sicherlich das beklagenswerte Schicksal des nach zehn Jahren aus dem trojanischen Krieg nach hause kommenden Königs von Mykene vor Augen, der dort von seiner inzwischen untreu gewordenen Gattin schnöde gemeuchelt wird, Deparade übersetzt aber das von der Seherin Kassandra geweissagte  Fluchgeschick des Hauses der Atriden, dem Agamemnon angehörte, in eine allgemeine
Fragestellung, nämlich die, ob wir vom Schicksal dem Konflikt ohne Ausweg, wie ihn das griechische Drama kennt, unentrinnbar ausgesetzt, also determiniert sind, oder, ob es doch so etwas wie eine selbstverantwortliche Handlungsmöglichkeit gibt, einen zumindest teilweisen freien Willen. Die Bilder Deparades sind ein Widerspiegel dieser Thematik: Auf der einen Seite die innere Gesetzlichkeit der künstlerischen Mittel, denen der Maler unterworfen ist, ob er will oder nicht, die er als gegeben vorgefunden hat, auf der anderen das psychisch-automatische Zeichnen, das Offenlegen von Schichten des Unterbewußtseins, die er in künstlerischer Freiheit dem anderen Bereich in ausbalancierter Synthese verbindet. Beide Seiten weisen, wie zu zeigen war, strukturelle Gemeinsamkeiten auf, die sie als Bestandteil ein und derselben Medaille erscheinen lassen. Henri Deparades Kunst ist ein allgemein formuliertes Versöhnungsangebot dieser Grundfrage menschlicher Existenz. Das ist der Sinn seiner bewegten Bildharmonie.

Rainer Beck
25.04.2008